Kanadas Premierminister Justin Trudeau hat liberalen, weltoffenen Menschen auf der ganzen Welt Hoffnung gegeben. Julie Taub kann ihn nicht ausstehen. Sie hat lange für das "Immigration and Refugee Board of Canada" gearbeitet, etwa die kanadische Entsprechung des deutschen BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). "Bei uns regiert der Selfie-König der Welt", sagt sie und beugt sich vor. "Der Typ hat uns direkt in die Krise geführt."

"Der Typ", das ist Regierungschef Trudeau. FOL

Was Julie Taub meint: Seit dem vergangenen Jahr überqueren Menschen auf illegalem Weg die Grenze aus den USA vor allem nach Ontario und Québec. Im großen Stil, zumindest für kanadische Verhältnisse. 50.000 waren es 2017, die Prognose für das laufende Jahr liegt bei knapp über 20.000.

Kanadas Premier Trudeau ist für manche ein Held – für andere ein Bösewicht

"Die Regierung weigert sich, ein Team an die Grenze zu schicken, dort ein provisorisches Büro einzurichten und die Leute direkt zurückzuschicken", klagt Taub. Stattdessen kümmert sich die Royal Canadian Mounted Police darum, die nationale Polizei Kanadas mit den charakteristischen roten Uniformen und braunen Hüten: "Die sind nichts weiter als ein glorifizierter Taxiservice für die Flüchtlinge zu einem Büro, wo diese dann ihren Asylantrag stellen dürfen, obwohl sie gar nicht die Definition eines Flüchtlings erfüllen." 14 Länder, 14 Reporter – Lösungen, die für unsere Gesellschaft Vorbild sein können

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Ungewohnte Stimmung im liberalen Traumland. Gerade erst hat Ontario, Kanadas bevölkerungsreichste Provinz, in Doug Ford einen Ultrakonservativen zum neuen Premier gewählt. Er geht Trudeau frontal an, wirft ihm vor, illegale Flüchtlinge quasi eingeladen zu haben. Die Provinzregierung fordert sofort 200 Millionen kanadische Dollar (rund 134 Millionen Euro) von Trudeau, andernfalls will sie sich nicht um die Neuankömmlinge kümmern.

Und doch herrscht in Kanada ein parteiübergreifender Konsens: Einwanderung im großen Stil ist unverzichtbar. Das weiß auch ein Politiker wie Doug Ford, dessen Wähler viel mit denen von Donald Trump gemeinsam haben. Trotzdem ist er keine kanadische Version des US-Präsidenten, glaubt Frank Graves.

Graves ist Gründer und Chef eines der wichtigsten Meinungsforschungsinstitute in Kanada. "Kämen die Konservativen mit Ford an der Spitze an die Macht, würden sie das Thema Einwanderung als Hundepfeife für ihre Wähler benutzen, als Spielzeug, wann immer es opportun ist, aber sie würden das System nicht grundlegend ändern und Mauern errichten", sagt er.

Weiße Christen wollen ihre Herrschaft zurück

"Was wir jetzt in den Vereinigten Staaten und zum Teil eben auch in Kanada sehen, ist ein später Versuch, eine Nation von weißen Christen wieder zu etablieren", beschreibt Graves die Lage. "Es wird die Vorstellung verbreitet, dass weiße, christliche Gesellschaften die Kontrolle verloren hätten und jetzt von Fremden überschwemmt würden." AFP Trudeau mit Navdeep Bains (l.), Kanadas Minister für Innovation, Wissenschaft und wirtschaftliche Entwicklung

Die rechten Reflexe funktionieren in Kanada längst nicht so gut wie etwa beim südlichen Nachbarn, was auch mit der kaum vorhandenen Geschichte des Landes zu tun hat. Kanada löste sich erst Ende des 19. Jahrhunderts verwaltungstechnisch von Großbritannien und ist seit nicht einmal 100 Jahren vollständig souverän. Das Land erlebte weder Befreiungs- oder Bürgerkriege noch Sklaverei, Rassenkämpfe oder eine eigene Kolonialgeschichte. Vielmehr drohte Kanada zwischen amerikanischen und britischen Interessen zerrieben zu werden und als Staatsgebilde zu scheitern, bevor es überhaupt richtig loslegen konnte.

Die Antwort der Regierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Sie schickte Vertreter vor allem nach Osteuropa und ließ offensiv um Einwanderer werben. Das junge Land brauchte neue Menschen. Es funktionierte, und seither wissen die Kanadier: Einwanderung kann so manches Problem lösen.

Multikulturell war da aber noch gar nichts in Kanada. So unterschiedlich die Ausgangspositionen zwischen beiden Seiten des Atlantiks auch gewesen sein mögen, in Gesellschaft und Regierung dominierte ein ähnlicher Rassismus wie in Europa. Für viele war es schon ein Problem, dass es unter den neuen Siedlern aus Europa so viele Katholiken gab.

Harte Wende in Kanada in den 1960er-Jahren

Bis nach dem 2. Weltkrieg war es etwa Chinesen per Gesetz verboten, nach Kanada auszuwandern, auch andere Völker wurden konsequent ausgeschlossen. In den 60er-Jahren war das Ende des Wirtschaftsbooms abzusehen. Die Regierung unter Pierre Trudeau, dem Vater des heutigen Premiers Justin, entschied, das Land für immer zu verändern und einen ganz anderen Weg zu gehen als Europa. Mit einem neuen Punktesystem wurden ab 1967 ausgewählte Menschen aus der ganzen Welt nach Kanada geholt. Aus einem weißen Land wurde ein multikulturelles, seit 1982 gibt es sogar einen Staatsparagrafen, der das festlegt.

Heute ist die Situation bei Immigranten radikal anders: "Die Chinesen dominieren ganz klar in Kanada. In British Columbia fängt für viele Kanadier schon China an. Danach kommen die Inder. Es ist längst nicht austariert", sagt Prof. Dr. Martin Geiger, ein deutscher Migrationsforscher, der selbst vor sechs Jahren nach Kanada ausgewandert ist. Nicht überall sei im Land Weltoffenheit selbstverständlich: "Québec hat fast vollständige Autonomie, was Einwanderung betrifft. Dort hat Französisch Vorrang. Es gibt dort eine Diskussion gegen öffentliche Verschleierung oder gegen bestimmte Prediger, weiß gegen schwarz, das ist teilweise sehr nahe an Europa."

Der Umbau Kanadas gelang vor knapp 50 Jahren nur gegen riesigen Widerstand. Was teilweise bis heute zu spüren ist. "Dafür braucht man Anführer mit einer Vision, die 20, 30 oder 40 Jahre nach vorne schauen können", sagt Kehinde Olalere, als Jurist ein Experte für Einwanderung und selbst Sohn nigerianischer Immigranten. "Jemand wie Donald Trump tut immer, was ihm gerade politisch gelegen kommt. Jemand wie Pierre Trudeau traut sich auch mutige Entscheidungen, selbst wenn sie ihm selbst nicht unmittelbar helfen."

Bald sind ein Viertel der Menschen in Kanada nicht dort geboren

Kanada revolutionierte sich selbst, weil es eben notwendig war. Die Auswirkungen sind heute mehr denn je zu spüren, die Hälfte der Menschen in Kanadas größter Stadt Toronto sind im Ausland geboren. Landesweit liegt die Zahl bei 22 Prozent, eine Schätzung der Regierung geht für das Jahr 2030 von mehr als 25 Prozent aus. "Einer der Gründe, aus dem wir weniger Angst davor haben, dass eine Rechtsaußen-Partei in Kanada an die Macht kommt, ist: Einwanderer wählen in den meisten Fällen die aktuelle Regierung", lautet die Theorie des Buchautors John Ibbitson.

Zumindest wählen sie innerhalb des traditionellen Spektrums: "Jeder Premierminister seit Pierre Trudeau in den 1960er-Jahren gewann die meisten Stimmen der Einwanderer. Eine Rechtsaußen-Partei oder ein Rechtsaußen-Politiker, der hart gegen Einwanderer vorgeht und damit wirbt, Kanada für Kanadier zu erhalten, was auch immer das heißen soll, wird schlecht abschneiden. Das ist bislang die Absicherung, die uns vor einer Radikalisierung schützt."

Freiheitsliebe, Menschlichkeit, Egoismus und Berechnung halten Kanada zu gleichen Teilen zusammen. Und rechte, weiße Überlegenheitsfantasien draußen. Alle Geschichten aus der Reihe “14 Länder, 14 Reporter”

Estland:

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Kanada:

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Niederlande:

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Japan:

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Schweden:

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